Interview mit Dr. Norbert Marißen zum Verkehrsversuch

Interview mit Dr. Norbert Marißen zum Verkehrsversuch
Dr. Norbert Marißen, Mitglied im Planungsausschuss für Die Linke. Foto: NGZ

Das ist die Meinung des Einzigen, der gegen den Abbruch stimmte

01.05.2024 – Interview – Der Gladbecker Planungsausschuss hatte am 18.04.2024 auf gemeinsamen Antrag von SPD, CDU und FDP einhellig und nur mit der Gegenstimme der Linken beschlossen, den Verkehrsversuch auf der Buerschen Straße zu beenden. Damit soll die für den Versuch zunächst provisorisch eingerichtete, gesonderte Radspur wieder beseitigt werden. Stattdessen soll die Verwaltung die alten, 190 Parkplätze auf der Versuchsstrecke wieder einrichten.


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Planungsausschuss kippte den Verkehrsversuch Buersche Straße

Die Fraktion die Linke in Gladbeck versucht jetzt, den Beschluss des Planungsausschusses vom 18.04.2024 zu kippen. Sie hat die Bürgermeisterin um Beanstandung des Beschlusses gebeten und sie aufgefordert, seine Umsetzung zu stoppen.

Abbruch des Verkehrsversuches in Gladbeck rechtswidrig?

Wir haben Herrn Dr. Norbert Marißen, der für die Linke im Planungsausschuss sitzt, interviewt

Ganz unten veröffentlichen den Text des Schreibens der Linken an die Bürgermeisterin.

NGZ: Im Planungsausschuss der Stadt Gladbeck vom 18.04.2023 haben Sie als einziges stimmberechtigtes Mitglied gegen das Ende des Verkehrsversuchs auf der Buerschen Straße gestimmt. Haben Sie sich jetzt mit Ihrer Bitte zur Beanstandung des Beschlusses an die Bürgermeisterin gewendet, weil sie ein schlechter Verlierer sind?

Dr. Norbert Marißen: Die Ausschusssitzung liefert nur ein Zwischenergebnis im weiteren Verfahren zur Regelung des Verkehrs auf der Buerschen Straße. Gestatten sie mir einen bildlichen Vergleich: Wenn Zweifel bestehen, ob ein Tor zählt, muss der oder die Unparteiische prüfen, ob das Tor den Regeln entsprechend gefallen ist oder ob er es wegen Regelverstoßes aberkennen muss. Genau das fordert Die Linke jetzt von der Bürgermeisterin.

Die Maßnahme der Linken beruht sicher nicht auf irgendwelchen Emotionen. Unser Widerstand ist zwingend notwendig zur Abwendung einer konkrete Gefahr für Leib und Leben von Radfahrenden. Diese Erkenntnis stammt nicht von mir. Sie ist wesentlicher Inhalt der schriftlichen Vorlage des Stadtbaurats. Er hat seine Argumente gegen den SPD-CDU-FDP-Antrag in der Sitzung noch einmal eindringlich mündlich vorgetragen. Die Mehrheit des Ausschusses ist ohne Diskussion über seine beeindruckende Stellungnahme hinweggegangen. Sie haben damit den Baurat frontal beschädigt. Ihr Verhalten ist offenbar resistent gegen fachliche Beratung und ignorant gegenüber Sachargumenten. Wir dürfen das Ausblenden von konkreten Gefahren für Menschen im innerstädtischen Straßenverkehr so nicht stehen lassen.

NGZ: Für die Grünen ist die Förderung des Radverkehrs Kernthema. Dennoch: die grünen Ausschussmitglieder haben für die Beendigung des Versuchs plädiert. Macht sie das nicht nachdenklich?

Marißen: Nein, nicht im Geringsten. Im Gegenteil: das Verhalten der beiden grünen Vertreter im Ausschuss ist ein Stück aus dem Tollhaus. Beide Herren persönlich haben noch am Freitagabend vor der Sitzung auf einer von ihrer Partei veranstalteten, politischen Radtour auf der Buerschen Straße demonstrativ den abgetrennten Radfahrstreifen gefordert. Mit ihrem überraschenden Abstimmungsverhalten haben die Grünen ihre Glaubwürdigkeit in Sachen Umweltschutz definitiv verspielt. Wer die Verkehrswende will, darf die Grünen für Gladbeck nicht mehr wählen. Umso wichtiger ist es, dass Die Linke weiterhin nicht zulässt, dass es bei dem Ausschussbeschluss bleibt.

Weiter mit dem Interview mit Dr. Norbert Marißen, Die Linke

NGZ: Im März 2023 hat der Planungsausschuss beschlossen, den Verkehrsversuch auf der Buerschen Straße einzuführen. Die Linke – auch Sie in Person – hat damals ohne kritische Anmerkungen für den Versuch gestimmt. Ist es nicht in hohem Maße widersprüchlich, dass Sie die erneute Entscheidung in dieser Sache plötzlich für rechtlich fragwürdig halten?

Marißen: Wir haben uns mit unserer Prüfung ganz bewusst auf die Beschlussfassung vom 18. April 2024 konzentriert. Der aktuelle Beschluss ist nicht nur politisch falsch, sondern nach dem Ergebnis unserer Ermittlungen auch rechtlich nicht haltbar. Mit gutem Grund hat der Gesetzgeber die Regelung des Verkehrs ausschließlich in die Hand von Fachbehörden gegeben und nicht fachfremden Launen örtlicher Politiker überlassen. Ob auch der Beschluss des Planungsausschusses von 2023 gegen geltendes Recht verstoßen hat, hat weder die Verwaltung noch die CDU, die damals schon gegen den Versuch war, hinterfragt. Versäumnisse in einer rechtlichen Prüfung der Beschlusslage von 2023 ändern an der Rechtswidrigkeit des neuen Beschlusses nicht das Geringste.

NGZ: Die Bürgermeisterin hat sich schon vor der Ausschusssitzung in einem persönlichen, offiziellen Statement für das Ende des Versuchs und die Einführung des Mischverkehrs auf der Buerschen Straße eingesetzt. Glauben Sie wirklich, dass sie jetzt in ihrem Sinne entscheiden wird, nur weil Sie aus ihrer einsamen Position heraus von ihr fordern, die Umsetzung des Beschlusses zu stoppen?

Marißen: Unsere Argumente sind rechtlich kaum angreifbar. Die Bürgermeisterin ist per Gesetz verpflichtet, den Beschluss zu beanstanden. Die spontane Hauruck-Aktion vom 18.04. muss man nicht nur als missglückte Rolle rückwärts auf dem Weg zu einem zukunftsfähigen Verkehr in der Stadt verstehen. Die Antragsteller verletzen damit eindeutige Rechtsregeln. Dem Planungsausschuss fehlt die notwendige Zuständigkeit. Zusammen mit der Bitte um Beanstandung haben wir die Kommunalaufsichten beim Kreis und bei der Bezirksregierung informiert. Das wird helfen, dass die gesamte, für die Stadt weit über den Tag hinaus bedeutsame Angelegenheit im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht mehr nur ehrenamtlichen Politikern überlassen bleibt. Die Sache muss jetzt, so wie es das Gesetz zwingend vorschreibt, einer nüchternen, auf Tatsachen basierenden, verkehrsrechtlichen Prüfung und Entscheidung durch die zuständige Behörde zugeführt werden.

NGZ: Die Stadtverwaltung hat unmittelbar nach der Ausschusssitzung in allen Medien einschließlich den Kanälen der sozialen Medien detailliert mitgeteilt, dass der Verkehrsversuch durch die Entscheidung vom 18.04. beendet und schnellstens ein Mischverkehr eingeführt wird. Meinen Sie wirklich, dass Ihre Maßnahme daran etwas ändert?

Marißen: Warten wir erst mal ab, wie es mit der Beanstandung weitergeht. Gegen ihre Ablehnung kann man notfalls auch gerichtlich vorgehen. Im Übrigen möchte ich auch insoweit an die Ausführungen von Herrn Dr. Kreuzer anknüpfen. Im Planungsausschuss hat er ausgeführt, dass die Versuchsanordnung bleiben müsse, bis die von den Politikern gewünschten, baulichen Änderungen ausgeschrieben, vergeben und beauftragt sind. Das wird wohl kaum vor dem Ende der Versuchslaufzeit im August 2024 sein. Der beauftragte und mit 120.000 Euro bezahlte Berater könnte also seine Begutachtung zum Verkehrsgeschehen wie geplant abschließen. Die Uni Essen Duisburg könnte die anschließende Evaluierung durchführen. Wenn die Straßenverkehrsbehörde die Angelegenheit im ordentlichen Verfahren prüft und über die zukünftige Verkehrsführung entscheidet, läge es nahe, dass sie die Erkenntnisse aus den Erhebungen und Evaluierungen in Wahrung ihrer Sorgfaltspflichten berücksichtigt. Der Rat der Stadt und seine Ausschüsse können dabei ihre Auffassung („Parkplätze statt Verkehrssicherheit“) selbstverständlich in das Verfahren einbringen.

NGZ: Ist denn die vom Ausschuss beabsichtigte Wiederherstellung der Verkehrslage auf der Buerschen Straße und der Asienbrücke wirklich so schlimm, dass es sich für Sie lohnt, einen auf den ersten Blick aussichtslosen Bemühungen anzuzetteln? Gegen die sehr deutliche Mehrheit in politischen Gremien und wahrscheinlich auch gegen viele Autofahrer, die sich die alten Parkplätze wieder herbeiwünschen?

Marißen: Ein eindeutiges Ja. Stellen Sie sich vor, auf der Asienbrücke fahren zwei SchülerInnen per Rad stadtauswärts bergauf. Maximalgeschwindigkeit 12-15 km/h. Dahinter kommt ein Kraftfahrzeug, das mit 50 km/h fahren möchte und das im Prinzip auch darf. Der Fahrer fährt den Fahrrädern dicht auf, um die Radler zum Ausweichen oder schnelleren Fahren zu bewegen.  Das ist die vor Ort oft erlebte, ordnungswidrige Praxis. Lebensgefährlich für die Radfahrenden.

Oder ein Kfz versucht, sich an dem vor ihm fahrenden Fahrrad vorbeizuquetschen. Ebenfalls eine bis zum Versuchsbeginn immer wieder erlebte Einschüchterung und konkrete Gefahr für Leib und Leben.

Oder umgekehrt: Der Radfahrende sieht, dass hinter ihm drei oder vier Autos vorschriftsmäßig langsam fahren. Er möchte den Verkehr aber nicht behindern. Er steigt ab und versucht, sein Rad zwischen den parkenden Fahrzeugen zum Bürgersteig zu schieben. Sobald er beim Absteigen noch langsamer wird als beim Radfahren: akute Auffahrgefahr. Weiterfahren auf dem Bürgersteig? Ordnungswidrig und gefährlich, diesmal für Zufußgehende, die sich insbesondere bei der Bergabfahrt schnellerer Radler entschlossen zur Seite bewegen müssen, um nicht mit ihm zu kollidieren.

Ganz nebenbei: das vom Planungsausschuss offenbar gewünschte Verkehrszeichen VZ 277.1 „Verbot des Überholens von einspurigen Fahrzeugen …“ dürfte wegen der langen Verbotsstrecke von fast 700m nicht zulässig sein. Das schafft Intransparenz für die rechtlich nicht haltbare Situation und verschärft den beschriebenen Konflikt. Auch nimmt der Ausschuss in Kauf, dass die Höchstgeschwindigkeit im Mischverkehr angeblich bei 50 km/h bleiben müsse. Auch dies verstärkt die Gefahrensituation für alle Verkehrsteilnehmer drastisch.

Jeder Radfahrende, der einmal eine der beschriebenen Situationen erlebt hat, wird die Buersche Straße wohl meiden. Die Botschaft von SPD, CDU und FDP: „lieber Bürger, hör‘ endlich auf mit dem Radfahren. Du störst die fahrenden und parkenden Autos in unserer autogerechten Stadt“ ist dann bei ihm anschaulich angekommen.

So darf die Zukunft des Verkehrs in Gladbeck nicht aussehen. Und deshalb setzen wir unseren Widerstand fort.

Hier haben wir den Brief der LINKEN an die Bürgermeisterin verlinkt.


Polizeibericht aus Gladbeck Mitteilungen der Stadt Gladbeck

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2 Kommentare

  1. Meine Hochachtung für Ihre Haltung und der Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, Herr Dr. Marißen. Viel Erfolg!
    Ich hoffe und gehe ebenso davon aus wie Sie und Herr Stadtbaurat Dr. Kreutzer ausführte, dass die alte, gefährliche Radinfrastruktur nicht wiederhergestellt wird, bevor eine “andere”, verkehrssichere Lösung gefunden und umgesetzt wird. Sollte ein tödlicher Unfall geschehen, so müsste m.E. die Staatsanwaltschaft gegen die Verantwortlichen z.B. wegen Tötung (Offizialdelikt) ermitteln.
    Der Rückbau auf den alten Stand, die Aufstellung eines Überholverbotes von Zweirädern oder die Verlegung des Radverkehrs auf den Gehweg, wie verschiedentlich vorgeschlagen, durch einen gemeinsamen Geh- und Radweg oder “Radfahrer frei” Anordnung wäre aber auch keine Lösung, denn sie verstößt u.a. ebenso gegen die Richtlinien zur Anlage von Stadtstraßen RASt einschließlich der E Klima, die Verwaltungsvorschriften zur STVO (unbehinderte Begegnung mit Rollstuhl und Kinderwagen) und dem erklärten Ziel der “vision zero” im Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz von NRW! Bei einem Unfall wird auch hier die Staatsanwaltschaft tätig werden müssen und entscheiden, ob Fahrlässigkeit oder Vorsatz vorliegt?
    Meiner Ansicht nach spräche alles für Vorsatz, denn der jetzige sichere Zustand hätte ja beibehalten werden können bis eine regelkonforme Ausführung beschlossen wäre.

    Parkplätze an der Buerschen Straße ließen sich nur dann verwirklichen, wenn breite Streifen beidseitig entlang des grünen Mittelstreifens asphaltiert würden. Ältere Bäume werden die Schädigung des Wurzelwerkes gewiss nicht überleben, andere, am Rand stehende, müssten gefällt werden. Ein Förderzuschuss des Landes halte ich aus Klimaschutzgründen für ausgeschlossen.
    Die Kosten für diese “kostenlosen” Parkplätze entlang der Straße trügen alle Bürger, auch jene, die sich kein Auto leisten können oder wollen. Schon für rund 120 € Monatsmiete ließe sich kostendeckend ein Parkhaus mit 200 Stellplätzen betreiben, eine Umverteilung von unten nach oben fände nicht statt.

    “Grundsätzlich wird dabei dringend empfohlen, Parkraum nur außerhalb des Straßenraums anzubieten. Öffentliche Flächen sollen vorrangig dem Rad- und Fußverkehr, dem ÖPNV und fließenden Verkehr sowie für Aufenthaltsflächen und erforderliche Stadtbegrünung zur Verfügung stehen.”, so das vom Land NRW (Ministerpräsident Wüst, CDU) finanzierte Zukunftsnetzwerk Mobiltät im Gegensatz zur Gladbecker CDU.

    “Wenn Parken im Straßenraum nicht zu vermeiden ist, sind Sicherheitstrennstreifen mit einer Mindestbreite von 0,75 Meter zu allen Arten der Radverkehrsführung vorzusehen ‒ so auch bei Radfahrstreifen, Schutzstreifen und in Fahrradstraßen. Dies soll die sog. Dooring-Unfälle vermeiden, bei denen Radfahrende mit unvorhersehbar geöffneten Türen geparkter PKW kollidieren.
    Auch für Parkplätze an Straßen wird es neue Empfehlungen (EAR) geben: Es gilt der Grundsatz, so wenig Flächen wie möglich für Parkplätze einzuplanen. Stattdessen sollen Flächen für Grünbereiche, für die Retention und/oder dezentrale Entwässerung mit Versickerung und/oder für andere umweltfreundliche Modi gewonnen werden, die dazu beitragen können, ein Aufheizen von Straßenräumen zu verringern.”, so die FGSV (Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V.), deren Regelwerke als Stand der Technik vom Land NRW anerkannt sind. Dem stehen das Abstimmungsverhalten von CDU (christlich), SPD (sozial) und Grüne (Umwelt) im Rat entgegen.
    Warum alle diese Regelwerke? Viele tausend Menschen sterben bereits heute in Deutschland den Hitzetod und den Unfalltod, sie vereinsamen, weil ihnen die Wege mit dem Rad zu gefährlich und Wege zu Fuß zu lang sind, wenn Bänke zum Verschnaufen im Schatten fehlen. Deshalb muss heute der Straßenquerschnitt von außen nach innen gestaltet werden mit mindestens 2,5 m breiten, barrierefreien Gehwegen mit Sitzgelegenheiten unter schattenspendenden Bäumen, wo sich Menschen ausruhen und begegnen können. Ein 2,3 m breiter Radweg, der mit abgeschrägten Bordsteinen von der Fahrbahn getrennt ist, schließt sich an.
    Wollen Parteien, Bürger und Stadträte in Gladbeck wirklich immer neu verhandeln und mit Mehrheiten auf kommunaler Ebene selbst gegen geltendes Recht abstimmen, ob nun der Parkplatz vor der Haustür wichtiger als die selbstständige Mobilität eines entdeckenden Kindes oder der schattige Platz für Senioren auf der Bank oder die Gesundheit eines radfahrenden Menschen ist? Wäre es nicht besser, sich an Gesetze zu halten, die ja zuallererst nicht eine Einschränkung bedeuten, sondern unser aller Freiheit sicherstellen und bestenfalls dafür auch noch einzutreten, selbst dann, wenn man weder Kind, alt oder behindert ist – eben einfach Verantwortung zu übernehmen?

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