Müzeyyen Dreessen schreibt an Bürgermeisterin

Müzeyyen Dreessen schreibt an Bürgermeisterin
Müzeyyen Dreessen beklagt sich in einem offenen Brief an Bettina Weist über die Auswertung der Nachnamen von Corona-Infizierten

Nachnamenauswertung der Stadtverwaltung stößt bei Migranten sauer auf

03.05.2021 – Müzeyyen Dreessen – Die Stadt Gladbeck hatte vor etwa 14 Tagen mitgeteilt, dass man die Nachnamen von rund 400 Corona-Infizierten ausgewertet habe um festzustellen, wie hoch der Migrantenanteil unter ihnen sei. Diese Maßnahme stieß auf viel Kritik, denn tatsächlich wurde nicht nach Migranten, sondern nach türkisch und arabisch klingenden Namen ausgewertet. Außer der Befriedigung niederer Instinkte hatte diese Auswertung keinerlei Aussagekraft.

Die Neue Gladbecker Zeitung berichtete hier

Nun schrieb die Gladbeckerin Müzeyyen Dreessen, ehemalige Ratsfrau der CDU, einen offenen Brief an die Bürgermeisterin Bettina Weist und machte ihre Position dazu deutlich.

Es steht zu erwarten, dass die Aktion der Stadtverwaltung in der morgigen Sitzung des Integrationsrates sehr kritisch diskutiert wird.

Hier der offene Brief von Müzeyyen Dreessen

Liebe Bettina,

Du weißt, dass in den letzten Jahren vor Deiner Wahl kritische Bürgerinnen und Bürger und die Opposition es nicht einfach hatten in dieser Stadt. Die Äußerungen seitens der politisch Aktiven und die Berichterstattung in den lokalen Medien haben es vor und nach der Wahl noch einmal unterstrichen. Diffamierungen, Herabschätzungen und Abweisung von jeglicher sachlicher Kritik, Rechtfertigung des eigenen Handelns ohne Fehlereingeständnis, nach dem Motto, wir haben die Macht und können machen was wir wollen, zeigten wenig Empathie für Meinungsverschiedenheiten, bis dahin, dass kritische Menschen im öffentlichen Raum von manchen nicht gegrüßt wurden oder Menschen sich nicht trauten mit Oppositionellen sich öffentlich zu zeigen. Du bist für eine andere Politik eingetreten, für ein Miteinander, auch mit allen gesellschaftlichen Gruppen. Das hat Hoffnung gemacht.




Ihr meint es nicht vielleicht so, aber die Berichterstattung am 21. April über Menschen mit Einwanderungsgeschichte und Infektionszahlen, insbesondere dass Verwaltung sich die Listen der Infizierten vom Kreisgesundheitsamt geben lässt und sie nach Namen auswertet, von denen man ausgehen kann, dass sie einen anderen kulturellen Hintergrund haben, noch dazu ohne Differenzierung dessen, ob sie schon Jahrzehnte hier leben, gut Deutsch sprachig sind, im Beruf stehen oder erst vor Kurzem als Flüchtling gekommen sind, hat mich persönlich geschockt. Ich habe mir morgens die Augen gerieben als ich den Artikel gelesen habe und mich gefragt, wann sind wir endlich ein Teil vom „Wir“, zumal viele in den Listen wahrscheinlich auch die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Eure Rechtfertigung in dieser Woche überzeugt leider nicht. Man behandele alle gleich steht im Widerspruch zu der Aussortierung der Namen nach Herkünften, übrigens auch im Widerspruch zu der Tatsache, dass sich die fast 30 % Menschen mit Einwanderungsgeschichte im öffentlichen Dienst hier nicht widerspiegeln.

Es geht nicht darum, ob die Mehrheitsgesellschaft eine Vorgehensweise oder eine Äußerung selbst als ausgrenzend einschätzt, sondern wie es die Betroffenen selbst empfinden. Man ersetze einmal gedanklich den Begriff Migrationshintergrund durch Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen, Jude oder Schwarzer – ein Aufschrei des Entsetzens ginge zu Recht durch die Stadt und das Land, weil es eine rassistische Herausstellung von Gruppen wäre.

Die Herangehensweise, vom Gesundheitsamt sich die Listen der Infizierten geben zu lassen und nach kulturellem Hintergrund die Infektionslage zu erklären hat keine wissenschaftliche Grundlage. Es gibt keinerlei Erhebungen/Studien, die einen Zusammenhang zwischen Herkunft und Erkrankung herstellen können, aber viele raten fleißig mit und diskutieren auf dieser Grundlage auf Kosten von uns Menschen mit Migrationsgeschichte und zum Wohlwollen von rechten Gruppen. Eher hat in der Pandemie die Diskriminierung gegen sie zugenommen, wie u.a. dieser Artikel mit einer Studie unterlegt berichtet:
https://www.evangelisch.de/inhalte/185162/20-04-2021/studie-diskriminierung-vonmigranten-hat-der-pandemie-zugenommen

Die sozialen Medien sind zurzeit voll mit rassistischen Kommentaren zum Thema Migranten und Corona. Ein enger Verwandter von mir ist vor Kurzem in Duisburg auf dem Weg von der Nachtschicht zu seinem Auto angegriffen und beschimpft worden. Sie würden sich als Ausländer nicht an die Regeln halten. Auch das war ein Schock. Die Stimmung ist aufgeheizt. So war das meistens in diesem Land in Krisenzeiten und die Minderheiten sind es, die dann zum Sündenbock und zur Zielscheibe gemacht werden. Ja, wir müssen über Probleme reden, aber nicht dabei die Grenze zwischen Migranten und Nicht-Migranten stellen, sondern das Phänomen im sozialen Kontext sehen. In sozial schwachen Gegenden wohnen viele Menschen im beengten Raum. Menschen mit Einwanderungsgeschichte
arbeiten zu dem vielfach in der Industrie, Pflege, als Reinigungskräfte, Erntehelfer oder im Verkauf an der Kasse. Sie können sich nicht in Homeoffice zurückziehen. Die Einwanderungsgeschichte ist nicht der entscheidende Faktor. Länder, in denen es kaum Migranten und Muslime gibt, haben auch hohe Infektionszahlen. Die allermeisten Querdenker auf den Straßen gegen die Corona Auflagen sind auch nicht Menschen mit Einwanderungsgeschichte.

Ich engagiere mich seit 30 Jahren für ein Zusammenleben der Kulturen und Religionen in dieser Stadt auf der Grundlage unseres Grundgesetzes, weil ich nach Stationen der Wanderung hier in Gladbeck angekommen bin. Dabei habe ich bisher mit niemanden den kritischen Diskurs in der Sache gescheut, obwohl ich auch immer wieder merke, dass das einer Frau, noch dazu mit Migrationsgeschichte hier Übel genommen wird. „Sollten Sie sich mal wagen, sich in ihrem Land, der Türkei, so zu äußern“, wurde wir mal entgegengeschmettert. Diese Aussage drückt eigentlich aus, dass man mich hier nicht akzeptiert und nicht zugesteht, mich kritisch äußern zu dürfen. Ich bin aber auch sehr kritisch, wenn es um die Politik in der Türkei und ihre antidemokratischen, politischen Einflüsse hier geht. Und die gibt es leider auch über manche Vertreter in unserer Stadt.

Prof. Uslucan vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung berichtete in seinem Online-Vortrag am 21. April hier bei der VHS noch einmal kurz, wie stark die AKP Regierung hier Strukturen geschaffen hat und auch über manche Gemeinden seinen Einfluss ausübt.

Der kritische Diskurs ist auch dort schwer möglich, ohne dass man gleich als Nestbeschmutzer, Verräter oder Terrorunterstützer beschimpft wird. Aber ich gehe davon aus, dass die Mehrheit sich hier zu Hause fühlt und sich mit unseren Werten und unserem demokratischen Verständnis identifiziert. Daher wünsche ich mir, dass wir alle als Teile
dieser Stadt gesehen werden.

Der Soziologe und Erziehungswissenschaftler Prof. Aladin El -Mafaalani sagt immer wieder in seinen Statements und Vorträgen, dass die ältere Generation der Arbeitskräfte genügsam war und vieles akzeptiert hat. Wir nachfolgenden Generationen forderten gleichberechtigte Teilhabe. Gelungene Integration führe aber zu mehr Konflikten und Diskursen. Ich denke, er hat nicht ganz unrecht. Den Diskurs um Teilhabe und Anerkennung müssen wir führen, weil die nachwachsenden Generationen Vorbilder in den Strukturen brauchen, damit sie nicht anderen, diktatorischen Vorbildern hinterherlaufen.

Viele Grüße
Müzeyyen


Polizeibericht
aus Gladbeck
Mitteilungen
der Stadt Gladbeck

Neue Gladbecker Zeitung: hier den Newsletter abonnieren.

{Anmeldeformular}


Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*